Bericht vom 27. Juni
Heribert Faßbender hätte heute seine wahre Freude gehabt, denn es gab ein Fußballspiel - und während ich diese Zeilen schreibe, weiß ich noch nicht, wie es ausgeht, denn es ist der Morgen des 27. Juni und ich sitze in meiner Hütte und habe gerade geduscht. Zwischen halb neun und halb elf ist wieder eine Lücke im Zugfahrplan, und da ich den Zug um halb neun nur mit Mühe gekriegt hätte, habe ich mich dafür entschieden, in Ruhe zu duschen und schon einmal in ebendieser Ruhe diese Zeilen vorzuschreiben.
Gestern Abend musste alles ein bisschen schnell gehen, weil mein Akku nur noch 7% hatte, nachdem ich bei der Eingangskontrolle beim Fan-Fest zum Nachweis, dass da kein Sprengstoff drin ist, den Rechner anschalten musste und danach vergaß, ihn wieder auszuschalten ... Meine Syrerin (ich nenne ihren Namen nicht, weil ich vergessen habe zu fragen, ob es okay ist, ihn hier im Blog zu nennen) und ich unterhielten uns danach kurz, ob wir uns jetzt deswegen sicherer fühlen oder nicht - irgendwie überzeugt mich diese ganze Untersucherei nicht so richtig, vor allem, wenn sie so übertrieben wird wie dort (mit Sprengstoffhund am Kinderwagen!). Wir kamen wieder auf eines meiner Ceterum-censeo-Themen zu sprechen, bei denen ich nie weiß, ob ich der Trottel bin oder alle anderen, nämlich diese Eingangskontrollen am Flughafen, die ich, wenn ich Böses wollte, dankbar annehmen würde, weil mir viele mögliche Opfer so komprimiert auf dem Silbertablett dargeboten werden. Nun gut, sei's drum ...
Der Tag gestern war ganz großartig. Ich muss ja gestehen, ich wusste nicht, was auf mich zukommt, weil ich den Mann meiner Syrerin ja gar nicht kannte und ich sie irgendwann auch mal mit Kopftuch gesehen hatte auf einem Foto, was so gar nicht zu ihr passte und was sie damals, 2009 in Damaskus, für sich auch kategorisch ausgeschlossen hatte. Das mit dem Kopftuch scheint ein einmaliger "Ausrutscher" gewesen zu sein, denn sie kam in Polohemd und Jeans auf mich zu, während ihr Mann den Kinderwagen (nein, nicht so einen zum Liegen, sondern zum Sitzen für die Kleine - heißt das jetzt "Trolley", ach, keine Ahnung ...) vor sich herschob - alles wie damals sozusagen, jedenfalls hinsichtlich ihres Kleidungsstils. Entsprechend umarmten wir uns auch sofort, und ich begrüßte die kleine Tochter, die am Anfang noch ein bisschen scheu war (später wurde das besser) ...
Einem Eis von KFC folgte der Spaziergang durch die Fußgängerzone, als es auf einmal bestialisch anfing zu gewittern und entsprechend auch zu regnen. Wir waren gerade dabei, bei McDonald's - oder vielmehr МакДоналдс - vorbei zu gehen und stellten uns also dort unter. Die Fußgängerzone wurde zum Schwimmbad, und als die Kleine vom Donner direkt über uns Angst bekam, gingen wir zu McDonald's rein. Ich trank eine Cola (ich hatte gestern Vormittag viiiiiiel zu wenig getrunken), und wir gingen weiter, als der Regen aufhörte - bis auf den Wasserstrom die Hauptstraße runter konnte man nicht unterscheiden, ob es kurz geregnet oder so dermaßen gewittert hatte - die Kanalisation hier kann was.
Wir suchten in der Fußgängerzone namens Bauman-Straße eine tatarische Gaststätte, und die beiden überließen unfreundlicherweise mir die Entscheidung, wo wir hingehen sollten. Das erste Lokal, so eine richtige Kantine, war mir zu ungemütlich, was für die beiden auch okay war, aber die dritte Gaststätte hatte ein Kinderspielzimmer und ein richtig gemütliches, bauernzimmerartiges Speisesälchen - hier gefiel es uns auf Anhieb.
Eine Bedienung sprach auch Englisch und konnte uns die Speisen erläutern, auch wenn die Karte auf Englisch war, aber meine Syrerin war ein bisschen anspruchsvoll in ihren Nachfragen. Ich wollte freundlich sein und fragte nach, ob es okay ist, wenn ich ein Bierchen trinke (ich wusste wirklich nicht, wie sie zu Alkohol steht, und gerade in einer jedenfalls formal muslimischen Stadt wie Kasan kann man sich ja auch ein bisschen anpassen, selbst wenn hier wahrscheinlich nur ein Bruchteil der Bevölkerung ernsthaft muslimisch ist), was damit beantwortet wurde, dass ihr Mann auch ein Bier bestellte (welches sie dann zur Hälfte austrank, sehr sympathisch ...).
Das Bier war eigentlich gut, aber warm, sodass ich mich schnell überzeugen ließ, nach dem Essen - es gab Fleischspieß und Salat für die beiden und eine Suppe und danach Pferdefleisch, sehr lecker, für mich - weiterzuziehen. Wir liefen vorbei am Kreml und um die - naja - Lagune der Wolga in der Stadt herum und gingen zum Fan-Fest.
Der Ausblick beim Fan-Fest ist fantastisch - direkt neben der Großleinwand hat man einen tollen Blick auf den beleuchteten Kreml und den Rest von Kasan sowie auf diese Wolga-Lagune -, die Stimmung war gut, auch wenn es nicht voll war (kaum Schlangen bei Essen und Trinken, das haben sie völlig ausreichend dimensioniert, jedenfalls für einen Abend wie gestern), nur dass Argentinien noch das 2:1 macht, hätte nicht sein müssen. (Nach dem Spiel heute Abend gucke ich dort die Spiele der Gruppe E.)
Danach bestellte ich mir mein Uber, der Fahrer war alles andere als gesprächig und reagierte nicht mal auf mein "Hello", aber mir war's wurscht, denn er fuhr mich kompetent in meine Unterkunft, und das ist es, was zählt.
Der heutige Blogeintrag wird ein Fallbeispiel nichtlinearer Erzählung, denn vor dem Treffen mit den Syrern war ich noch auf Erkundungstour im Kasaner Kreml, weil ich noch eine Stunde oder so Zeit hatte, bevor ich mich mit den beiden treffen wollte.
Als ich also dann mit dem Zug in Kasan ankam, ging ich nicht rechts herum in Richtung Treffpunkt, sondern links herum in Richtung Kreml. Von Ferne sieht das Teil, speziell die Kul-Sherif-Moschee und die Kremlmauer, schon sehr beeindruckend aus - und wenn man erstmal den Eingang gefunden hat, wird es noch besser ... Ich kam am Sujumbike-Turm vorbei, von dem sich eine von Iwan, dem Schrecklichen auserkorene Prinzenwitwe gestürzt haben soll, um nicht mit ihm verheiratet zu werden und ging in die Kul-Sherif-Moschee rein. Von außen erinnert mich die sehr an das kleine Moscheele in Buchara mit ihren vier Minaretten und der türkischen Farbe, von innen ist sie sehr schön in Blautönen gehalten. Die Verteilung der Tücher zum Bedecken der Knie und Schultern am Eingang funktioniert problemlos, auch wenn es immer wieder lustig war, deutsche Männer mit Deutschland-Trikot und türkisem "Rock" zu sehen ...
Ich verließ den Kreml auf der anderen Seite, stieg herab und die U-Bahn und wollte mich dort häuslich einrichten, so schön kühl war es dort. Es half alles nichts, auch wenn ich ein paar Bahnen fahren ließ, irgendwann musste ich in eine einsteigen und eine Station später aussteigen. Die U-Bahn-Stationen hier sind übrigens sehr schön künstlerisch gestaltet (anders als in Minsk ...), sodass man die Stationen durchaus als eigenständige Attraktionen sehen kann ... Ich verlief mich ein wenig, kam dann aber am Treffpunkt an, und für den Rest siehe oben ...
Der restliche heutige Tag kommt jetzt (und wird morgen vielleicht wieder ergänzt, das muss jetzt halt so sein, weil ich in meinem Erholungsheim kein WLAN habe und abends dann, wenn ich in der Fanzone oder so WLAN habe, kaum mehr Akku übrig ist und ich vielleicht auch ein Bier intus habe - ab morgen wird der Erzählrhythmus wieder konventioneller und fotohaltiger ...):
Hinter mir liefen ein paar andere Insassen meines Erholungsheims zum Bahnhof, denn auch sie wollten zum Spiel. Der Zug kam sehr pünktlich, die Fahrt kostete wieder 22 Rubel und ich wurde am Bahnhof nicht wie einige Russen von der Polizei zur Identitätskontrolle herausgezogen - mein Deutschland-Trikot war wohl Identifizierung genug, obwohl das keineswegs nur von Deutschen getragen wurde: Die Anzahl von Chinesen, Amerikanern und Russen im Deutschland-Trikot wurde heute wahrscheinlich in Tausendern bemessen - unfassbar (um so mehr tut es mir für diese Leute leid, die die deutsche Mannschaft für ihr früher einmal begeisterndes Spiel unterstützten wollten und so enttäuscht wurden ...).
Ich wollte in der Fußgängerzone zu Mittag essen, in der ersten Kneipe kam die Karte schnell, aber die Bedienungen ignorierten mich und die Empfangsdamen und An-den-Tisch-Geleiterinnen waren sich zu fein dafür, eine Bestellung entgegenzunehmen. Diese WM-Spieltage kommen ja auch ganz plötzlich, da muss man für die Überforderung des Personals schon Verständnis haben - nicht! Ich stand auf und ging (und war dabei nicht der Erste) ...
In der zweiten Kneipe wartete ich auch sehr lange, bis die Chefin herauskam, meinen bitterbösen Blick sah und schnellstens die Karte brachte. Da hatte sie nochmal Glück gehabt - und ich auch ... (Die Chefin zog sich dann relativ schnell ihre High Heels aus und fing an mitzuarbeiten - so sollte es sein, kluge Dame ...) Das Essen (eine typisch tatarische Hühnchen-Ei-Suppe und ein Pferdesteak, das ein bisschen zu durch war, aber sei's drum) war sehr lecker - und das Krombacher, das sie als einziges Fassbier hatten, ging auch (zwischendurch wurden noch mehrere Fässer nachgeliefert ...)
Auf die Rechnung wartete ich wieder ewig, dann ging's zum Kreml und im Shuttlebus in Richtung Stadion. Der Bus war wieder einmal eine mobile Sauna, die zudem von einem Fahranfänger gefahren wurde, dass da keiner durch den Bus gestürzt ist, grenzt an ein Wunder ... Am Ende der Fahrt stand ein Fußmarsch zum Stadion. Die Einlasskontrollen waren vernünftig und die Leute freundlich, so ist das völlig in Ordnung. Joa, und nach einer zweiten Einlasskontrolle war ich dann in der Kazan Arena und hatte noch etwa 70 Minuten bis zum Anpfiff - kein Stress also ...
Die Stimmung war sehr gut, auch wenn die Leute gut verteilt waren, um mich herum saß ein sehr begeisterter Südkorea-Fan, und die deutsche Hymne sang ich als Einziger im Umkreis mit ... Vielleicht sang ich aber auch so schief, dass sich kein anderer traute, sich auch als Deutscher zu erkennen zu geben ... Die Russen waren mehrheitlich für Südkorea, aber es gab eben auch ziemlich viele, die mit Deutschland hielten. Am lautesten wurde es, als die Menge "Rossija"-Rufe anstimmte - die Russen waren in der Mehrheit im Stadion, ganz offensichtlich ...
Über das Spiel breiten wir am besten den Mantel des Schweigens, ja, ist besser so. Nur das: Es ist einfach traurig, dass eine so talentierte Mannschaft auf diese Weise ausscheidet. Klar wollen die nach einer anstrengenden Saison schnell in den Urlaub, aber eine Weltmeisterschaft ist auch nur alle vier Jahre ... "N'Abend allerseits" passt, denn so behäbig wie Faßbenders Kommentare war die Spielweise der Mannschaft, und ich hoffe, dass ich den guten Heribert mit diesem Vergleich nicht zu sehr beleidige.
Ich wollte danach zum Fan-Fest, aber nach dem Vier-Kilometer-Marsch sprang in der Sicherheitskontrolle mein Rechner, den ich die ganze Zeit mitgeschleppt hatte, damit ich jetzt auf dem Fan-Fest in Ruhe den Blog schreiben kann, nicht an. Weil die Vollidioten (Entschuldigung) in der Sicherheitskontrolle dort aber strenger kontrollieren als am Stadion oder sonstwo in diesem Land und wahrscheinlich meinten, dass da Sprengstoff drin ist, hätte ich das Gerät in der Gepäckaufbewahrung abgeben sollen. Ich stieß sämtliche deutschsprachigen Verwünschungen aus, die ich kannte (in der Hoffnung, dass sie mich nicht verstehen), kaufte mir was zu trinken für die Nacht und marschierte zur U-Bahn. Auch dort legte ich mein Gepäck in das Röntgengerät, ging durch die Schleuse, piepte, aber es war mir egal, ich stampfte da so wie eine wildgewordene Ein-Mann-Horde durch den Sicherheitsbereich, dass sich kein Russe traute, mich aufzuhalten ...
Ich fuhr zwei Stationen ins Stadtzentrum und landete wieder in der "Bar Duck" ... Die Bedienung von vorgestern erkannte mich, organisierte mir gleich einen Stuhl an der Theke (ich war ja jetzt inzwischen fast Stammkunde ...), und ich konnte das Spiel Brasilien-Serbien gucken. Ich bestellte ein Filet Mignon, und auch wenn es hinsichtlich Größe und Fleischtextur nicht ganz an die Germania oder ans Sherry heranreichte, war das Preis-Leistungs-Verhältnis ganz hervorragend, denn das 200-Gramm-Steak kostete (zugegebenermaßen war die Beilage mit zwei Champignonvierteln und einer - allerdings ganz überragenden - grünen Knoblauchsauce nicht so riesig) gerade einmal acht Euro oder so ... (Wie ich das jetzt so, am Morgen des 28. Juni, so schreibe, läuft mir das Wasser schon wieder dermaßen im Mund zusammen, dass ich mir überlege, ob ich da gleich zu Mittag esse.)
Nach dem Genuss (?) von drei Bieren (und keinem Wodka, es hat sich einfach nicht ergeben, obwohl ich genug über das Spiel nachgrübelte ...) ließ ich mir wieder ein Uber kommen und fuhr das letzte Mal in meine Unterkunft.
Achja, um das Ganze völlig nichtlinear abzuschließen: Meine Syrerin fragte mich gestern unterwegs, ob es ein Land gäbe, in das ich so richtig gerne und (relativ) häufig fahren würde. Ich schickte vorweg, dass ihr meine Antwort nicht gefallen werde, denn sie lautete "Israel". Sie murmelte was von "I would use a different name" ("Ich würde einen anderen Namen verwenden."), aber dann wechselten wir das Thema ...
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Bericht vom 28. Juni (Teil 1)
Heute Morgen schlief ich aus, hatte irgendwie ein Käterchen, was aber nicht am Alkohol lag, sondern an dem albtraumhaften Abend, der leider kein Albtraum war, und packte meine sieben Sachen ... Ich checkte bei einem älteren Herrn aus, der pflichtschuldig untersuchte, ob ich etwas von dem Geschirr kaputtgemacht hätte (nein!), und lief dann, den Koffer neben mir herziehend, wieder die 800 Meter zum Bahnhof, weil ich mir kein Uber bestellen konnte, da die Buchung des Internet-Pakets zwar geklappt hatte, aber kein Internet da war ... Da kriegt O2 noch eine kurze E-Mail, dass sie mir sicher gerne die zweimal 1,99 Euro zurückerstatten. Naja ...
Ich überquerte letztmals auf dieser Reise unter Gefährdung meines Lebens (nein, keine Sorge, die Strecke ist so kerzengerade und da fahren keine Hochgeschwindigkeitszüge, da sieht man einen Zug von weiter Ferne ...) das eine Gleis und wartete auf den Zug, der wieder pünktlich kam. Die Zugfahrt war natürlich kein Problem, und ich bin - wie eben angekündigt - wieder in der Bar Duck gelandet; die kommt, glaube ich, auf meine Empfehlungsliste ...
Jetzt geht gerade auch endlich das Internet, sodass ich Masochist nicht nur das Deutschland-Spiel von gestern gucken muss, was sie zur Strafe nochmal zeigen ...
Fotos wollen immer noch nicht - die Lawine kommt bald ...